Von Kirchtürmen und Grenzzäunen

Gemeinsam sind wir stark!? Der politische Zeitgeist, so scheint es, geht momentan in eine andere Richtung. Das Eigeninteresse tritt zunehmend in den Vordergrund, eine Abschottung ist zu beobachten, Strafzölle und Mauerbau sollen wirtschaftliche und politische Probleme lösen, während Gespräche über gemeinsame Wege und Kompromissbereitschaft ihre Akzeptanz verlieren. Aber ist, was auf der großen politischen Bühne das Geschehen beherrscht, auch vor Ort bei uns im Bodenseeraum zu beobachten? Geht es überall nur noch darum, den eigenen Vorteil zu suchen?

Die Veranstaltung von DenkRaumBodensee am 5. Juli 2019 in Vaduz hat sich mit diesen Fragen beschäftigt: Wie stellt sich die Situation in der regionalen und der grenzüberschreitenden Kooperation im Bodenseeraum derzeit dar? Was hat sich in den vergangenen Jahren verändert und mit welchen Herausforderungen ist die Region zukünftig konfrontiert? Welchen Einfluss hat die globale Politik?

Im Technopark Liechtenstein, einem ehemaligen Industriegebäude, begrüßen Gastgeber Dr. Wilfried Marxer vom Liechtenstein-Institut und Dr. Roland Scherer von DenkRaumBodensee die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. In ihrer Einleitung machen sie deutlich: Kooperation im Bodenseeraum hat tatsächlich eine lange Tradition. Bereits seit 1824 existiert ein grenzüberschreitender Linienverkehr, 1857 wird der erste Staatsvertrag abgeschlossen. Und auch die Zahl an Organisationen, die sich grenzüberschreitend treffen und zusammenarbeiten, ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen: 1991 sind 100 Organisationen beteiligt, im Jahr 2001 sind es mit 200 doppelt so viele, 2018 werden 666 Organisationen gezählt.

Und doch, eine Blitzumfrage unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern führt zu einem eindeutigen Meinungsbild: Die Kooperation untereinander ist schwieriger geworden.

Die Moderation der Tagung übernimmt Prof. Dr. Anne Brandl von der Universität Liechtenstein, sorgt mit kompetenter Gesprächsführung und prägnanten Statements und Resümees für ein Gelingen der Tagung.

Zusammenarbeit hat hohen Stellenwert

Im ersten Kurzstatement verweist Klaus-Dieter Schnell, Geschäftsführer der Internationalen Bodensee-Konferenz IBK, auf  das Leitbild der IBK für die Bodenseeregion. Darin werden langfristige gemeinsame Ziele und strategische Schwerpunkte für die Zusammenarbeit in den nächsten Jahren gesetzt, was Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Verkehr, Umwelt und Gewässerschutz und weitere Gebiete mehr betrifft. Dabei hat für die IBK eine partnerschaftliche Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg hohen Stellenwert: So wurden strategische Kooperationsvereinbarungen mit den bodenseeweiten Vertretungen der Parlamente und der Städte abgeschlossen, die die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit der Region sichern sollen. Die Intensität der Kooperation hat zwar zugenommen und es wurden mehr Akteure in die Leitbildentwicklung einbezogen, doch wird es oft schwierig, wenn es um die Umsetzung konkreter Massnahmen geht.

Am Beispiel der Fähre zwischen Romanshorn und Friedrichshafen zeigt sich die Veränderung der Kooperationsbereitschaft. Während vor 20 Jahren noch Einigkeit darüber erreicht werden konnte, dass die wichtige Verkehrsverbindung auch finanziell von einem breiten Bündnis rund um den See getragen wird, richten sich heute die Augen vor allem auf die direkt beteiligten Gebietskörperschaften im Thurgau und in Bodensee-Oberschwaben. Es scheint, als wägten die Beteiligten viel stärker als früher ab, welcher direkte Nutzen für sie selbst herausspringt. Dies scheint gerade bei wirtschaftlichen Themen so zu sein.

Kooperation versus Autonomie

Donat Oehri, ehemaliger Gemeindevorsteher von Gamprin-Bendern und Vorstand der Rheintalischen Grenzgemeinschaft, erinnert: Kooperation war immer dabei, auf allen Ebenen: „Liechtenstein ist so klein, da muss man kooperieren.“ Auch hat sich die Anzahl der Kooperationen auf kommunaler Ebene stark erhöht, sie ist zudem intensiver geworden. Bilaterale Kooperationen funktionieren unter anderem deshalb oft gut, weil die Ergebnisse schnell sichtbar sind – auch für die Bürgerinnen und Bürger. Kooperation heißt aber auch Aufgabe von Autonomie, gibt Oehri zu bedenken, und die Arbeit sei oft mühselig.

Schließlich wäre es einfacher, einen gemeinsamen Feind zu haben – das ist international genauso wie im lokalen, kleinen. Zudem steht und fällt der Erfolg von Kooperationen mit den beteiligten Führungspersönlichkeiten. Die Zusammenarbeit, so Oehri, steht und fällt mit den Menschen. Es braucht vertrauensvolle Beziehungen, um langfristig erfolgreich zusammenzuarbeiten.

Die politische Kultur hat sich verändert

Ueli Strauss, ehemaliger Leiter des Amtes für Raumentwicklung und Geoinformation des Kantons St. Gallen, meint: Der Wille zur Zusammenarbeit ist nicht geringer geworden. Aber kooperieren wird schwieriger, und dafür gibt es mehrere Gründe.

Seine Beobachtung: Informelle Gruppen haben eine sehr lange Laufzeit. Werden weiche Themen bearbeitet, ist die Zusammenarbeit noch fruchtbar. Werden die Treffen aber offiziell, stockt die Zusammenarbeit und die Initiativen schlafen oft ein. Strauss spricht in diesem Zusammenhang von „harten Themen“, weil schwierigere Aufgaben im Verkehr, zur Energiewende oder zur Entwicklung der Agglomerationen auf der Agenda stehen, bei denen die Kooperationen in Konflikten nur schwer Lösungen finden. Zudem gilt: „Je grösser der Raum, desto seichter sind die Themen und die Zusammenarbeit wird schwieriger“. Am Beispiel eines Agglomerationsprogramms verdeutlicht er, welch langer Atem nötig ist. Zwei Jahre dauerte die Arbeit an den Vorlagen, zwei weitere Jahre wurden für die Abstimmungen benötigt. Diese Zeit muss man einplanen.

Wie seine Vorredner weist auch Ueli Strauss darauf hin, wie wichtig Einzelpersonen für den Erfolg von Projekten sind. Regierungspersönlichkeiten ecken allerdings auch kaum mehr an, die Dünnhäutigkeit der Politiker nimmt zu. Die Rahmenbedingungen für länderübergreifende Kooperationen haben sich insgesamt verändert: Die Komplexität der Themen nimmt zu, nationalstaatliches Denken ebenfalls. Es gibt weniger klare politische Vorgaben einerseits, andererseits nimmt in der Schweiz der Bund inzwischen mehr Einfluss auf die Kantone. Finanzen werden besser überwacht und die Spielräume für Akteure der Kooperation geringer, Einzelne müssen sich stärker rechtfertigen als in früheren Zeiten. Insgesamt hat sich die politische Kultur auch in der Region verändert, so Strauss.

Stagniert die Innovationslust?

Aus Perspektive des Tourismus blickt Jürgen Ammann von der Internationalen Bodensee Tourismus GmbH auf die Region. In Tourismus-Hochburgen wie Konstanz, Lindau und weiteren ist ein Wachstum zu beobachten, auch das Hinterland etwa in Oberschwaben profitiert; allerdings stagniert es in anderen Regionen.

Obwohl die Kooperation im Tourismus seit 120 Jahren funktioniert, bemängelt Ammann: Es findet zu wenig Ideenaustausch statt. Vieles wäre denkbar, wie z.B. der Austausch von Personal. Doch das Bewusstsein für „gemeinsam sind wir stärker“ ist gesunken. Der Wille zur Zusammenarbeit fehlt, wenn der Mehrwert für jeden einzelnen nicht direkt, sondern nur indirekt sichtbar wird. Insbesondere im Tourismus stehen die einzelnen Regionen oftmals in Konkurrenz zueinander: in der Konkurrenz um Produkte, Themen, Finanzen.

Auch ist immer wieder zu beobachten, dass grenzüberschreitende Projekte nach Auslaufen von Fördergeldern enden. Fehlt bei den Beteiligten die Lust auf Innovation und gemeinsames Handeln? Offenbar setzt sich auch im Tourismus nutzenorientiertes Denken durch, am Anfang steht die Frage nach dem Mehrwert, bevor die Entscheidung zur Mitarbeit fällt. Ammann wünscht sich hier mehr Solidarität und stellt die Frage in den Raum, ob projektorientiertes Arbeiten sinnvoll ist, oder ob nicht ein institutionalisierter Ansatz erfolgversprechender wäre.

Hindernisse der Zusammenarbeit – Risiko-Aversion

In seiner Reflexion aus wissenschaftlicher Sicht fördert Prof. Dr. Joachim Blatter von der Universität Luzern interessante Aspekte zutage. In der Bodenseeregion streitet man sich ausgiebig über Raumabgrenzungen, während etwa in den USA derartige Überlegungen keine Rolle spielen. Dort wird nicht definiert, sondern gemacht, auch wenn die Kooperationen unter Umständen nach zehn Jahren bereits wieder obsolet sind. Dort fällt auf: Private Akteure spielen eine zentrale Rolle. Und als Motivation für grenzüberschreitende Kooperation sind generell sowohl historische Gemeinsamkeiten zu beobachten als auch gemeinsame Bedrohungen, und auch Streit führt zu grenzüberschreitenden Kooperationen.

Blatter arbeitet aus empirischer Sicht vier Bereiche für das Entstehen von Kooperationen heraus. Der technisch/rechtliche Zugang führt über Notwendigkeiten oder Gebote zur Zusammenarbeit. Was für die Bodenseeregion nicht gilt, internationales Recht wird eher in Frage gestellt als neu vereinbart. Zunehmende Zweifel an Technik und Wissenschaft sind bei diesem Ansatz kontraproduktiv.

Der ökonomische Zugang ist erfolgversprechend, wenn die Parteien eine Win-Win-Situation ausmachen und ihre Lage verbessern. Wem es gut geht, wie in der Bodenseeregion der Fall, fürchtet aber eher, etwas zu verlieren. Somit herrscht eher eine Risiko-Aversion und das erschwert wiederum Kooperation.

Der kulturelle Zugang kann durch gemeinsame Identität sinnstiftend sein. Aber hier erleben wir in heutiger Zeit eher den Rückzug ins Vertraute, Nationale und Lokale, einen ‚cultural backlash‘.

Der politisch/ideologische Zugang hat oft Konflikte und Streit als Auslöser, was die Kooperationspartner zusammenschweißt. Demgegenüber erleben wir eine Entpolitisierung und Schwächung der Zivilgesellschaft. Fazit: Keine dieser Logiken greift in der Bodenseeregion, was sich als Hindernis der Zusammenarbeit herausstellt.

Nationaler Nutzen versus internationale Solidarität

Dr. Christian Frommelt, Direktor des Liechtenstein-Instituts, konstatiert in seinem abschließenden Beitrag: Europa hat im internationalen Vergleich die gerechtesten Gesellschaften der Welt. Gleichzeitig ist der Bevölkerungsanteil von Europa rückläufig.

Frommelt stellt den Gegensatz zwischen nackter Nutzen-Risiko-Analyse und der Orientierung an Werten heraus; weist auf das Spannungsfeld zwischen nationalem Nutzen und internationaler Solidarität hin. Ein Wertewandel ist indes bereits zu beobachten. Die Dominanz der ökonomischen Zusammenarbeit könnte in den Hintergrund rücken, eine ökologische Ausrichtung gewinnt stärker an Gewicht. Das Gemeinsame in den Vordergrund zu stellen, könnte als Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung helfen. Insofern gibt es erstaunliche Parallelen zwischen der Zusammenarbeit in Europa und in der Bodenseeregion.

Fazit:

Bei den Vorträgen und in der Diskussion der Tagungsteilnehmer und -teilnehmerinnen herrschte über einige Punkte große Übereinstimmung:

  • Der ideelle Wert der Zusammenarbeit wurde früher höher eingeschätzt als heute.
  • Der eigene Nutzen steht heute im Vordergrund, die Verhandlungspartner wollen sichtbare Fortschritte vorweisen können, sie stehen unter Erfolgsdruck.
  • Kooperation bedeutet immer auch, einen Teil der eigenen Autonomie abzugeben. Mit der gegenwärtigen politischen Grundstimmung scheint aber dafür die Bereitschaft zu sinken.
  • Der Wille zur Zusammenarbeit nach wie vor stark vorhanden. Allerdings sind die Rahmenbedingungen komplexer geworden. Die Arbeit erscheint oft mühselig.
  • Der Erfolg einer Zusammenarbeit hängt stark von der Persönlichkeit und dem Einsatz einzelner Personen ab.