Job alleine reicht nicht – das Gesamtpaket muss stimmen

Fachkräftemangel ist auch in der Bodenseeregion ein wichtiges Thema. Damit Absolventinnen und Absolventen von Hochschulen in der Region bleiben oder wieder zurückkommen, braucht es mehr als nur einen attraktiven Arbeitsplatz. Das Gesamtpaket, das Wohn- und Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Freizeitangebote und nicht zuletzt eine Bleibeperspektive für den Partner oder die Partnerin beinhaltet, muss stimmen.

Auf Einladung von DenkRaumBodensee diskutierten am 13.9.2019 rund 30 Expertinnen und Experten aus Hochschulen, Arbeitsmarktverwaltungen, Wirtschaftsförderungen und Unternehmen, wie es gelingen kann, dem Brain Drain am Bodensee wirkungsvoll zu begegnen. Das Thema wurde aus Sicht der Wissenschaft und der Praxis beleuchtet.

Bei der Begrüßung fasste Dr. Roland Scherer die Ausgangslage zum Thema „Brain Drain am Bodensee“ zusammen. Er machte deutlich, dass die Bodenseeregion eine Industrieregion mit nahezu Vollbeschäftigung ist. Sie sei jedoch mit zunehmendem Fachkräftemangel konfrontiert. Die Hochschulen in der Region bildeten zwar viele Menschen aus. Diese verblieben nach ihrem Studium allerdings nicht in der Region. Als zukünftige Herausforderung, die sich aber bereits bemerkbar machte, skizzierte er den demografischen Wandel und den damit einhergehenden Wertewandel sowie eine zunehmende Metropolisierung.

In seinem Inputreferat ging der Soziologe Dr. Thomas Wöhler zunächst auf die vergleichsweise niedrige Studierendenquote in der Bodenseeregion ein. Betrachte man die IBK-Region, so kämen 135.000 Studierende auf 4 Mio. Einwohner. Nur etwa ein Viertel der Absolventen deutscher Universitäten verblieben nach ihrem Studium in der Region. Wöhler präsentierte zudem die Ergebnisse einer Studie der Universität Konstanz zu Motiven Studierender für den Verbleib in der Region. An erster Stelle für die Wohnortwahl nach dem Studium stand für die Befragten der Kompromiss mit dem Partner oder der Partnerin, gefolgt von der Nähe zu Freunden und Familie. Erst dann wurden attraktive Arbeitsplätze und sichere Jobs genannt. Insgesamt wurden viele Faktoren als wichtig erachtet, die eine lebenswerte Region ausmachen. Ein Wundermittel, um die Studierenden auch nach dem Studium in der Region zu halten gebe es nicht, so Wöhler, allerdings könne man an vielen kleinen Stellschrauben drehen.

In der anschließenden Diskussion wurde u.a. thematisiert, dass Universitäten von guten Absolventen oftmals einen Weggang an andere Unis oder ins Ausland erwarten würden. Als mögliche Erklärung für die vergleichsweise geringe Priorität von sicheren und attraktiven Arbeitsplätzen für die Absolventen wurde angeführt, dass diese aufgrund der guten Ausgangslage auf dem Arbeitsmarkt insbesondere in der Bodenseeregion für selbstverständlich gehalten und dadurch als weniger wichtig bewertet würden. Außerdem würde eine hohe Arbeitsplatzdichte in den in den umliegenden Zentren die Metropolisierung begünstigen.

  1. Perspektiven aus der Wirtschaft

Dr. Michael Zickar, Leiter Core Technology des Unternehmens VAT – ein „hidden champion“ im Rheintal, bot einen Blick auf die Situation aus Arbeitgebersicht. Das marktführende Unternehmen VAT, das innerhalb kurzer Zeit stark gewachsen ist und einen weltweiten Markt bedient, sieht sich mit den Anforderungen eines Arbeitnehmermarkts und einer geringen Verfügbarkeit geeigneter auf Vakuum-Technologie spezialisierter Fachkräfte vor Ort sowie einer geringen Mobilität zwischen der Schweiz und Ländern der EU konfrontiert. Ziele des Unternehmens ist es daher, eine Mitarbeiter Pipeline zu generieren und selbst Mitarbeiter auszubilden und zu halten. Als Maßnahmen zur Zielerreichung dienten Employer Branding, Talententwicklung und eine regelmäßig stattfindende Mitarbeiterbefragung. Ein Projekt in Kooperation mit der Hochschule für Technik Rapperswil, das Studierenden im BA Maschinentechnik Raum für eigene Entwicklungen und das Kennenlernen des Unternehmens bot, schätzte Zickar als erfolgsversprechend ein. Er wünscht sich weitere Kooperationen und die Präsenz von VAT bei internationalen Fachkräften zu steigern. Die gewandelten Anforderungsprofile der potenziellen Arbeitnehmer an ihre Arbeitgeber, beispielsweise hinsichtlich flexibler Arbeitsmodelle, Attraktivitätssteigerung von Industriearbeitsplätzen sowie kontinuierliche Aus- und Weiterbildung sieht er u.a. als künftige Herausforderung für das Unternehmen.

Aus der Perspektive eines Wirtschaftsförderers berichtete Dr. Joachim Heinzl als Geschäftsführer des Wirtschaftsstandorts Vorarlberg (WISTO). Die Ausgangslage schilderte er als Spannungsfeld zwischen Wachstum durch Zuzug, gestiegener Lebenserwartung und einer Knappheit an verfügbaren Fachkräften, also Personen mit einer mindestens dualen Ausbildung im technischen Bereich und guten Deutschkenntnissen. WISTO betreut das Projekt Chancenland Vorarlberg, in dem beim Fachkräfte-Nachwuchs für attraktive Karrierewege bei innovativen Unternehmen in einem sportlichen Umfeld geworben werden soll. Hierfür wird entsprechendes Infomaterial bereitgestellt, unterschiedliche Kommunikationskanäle genutzt, an Karrieremessen teilgenommen und Netzwerktreffen für Alumni organisiert. Eine Webseite bietet darüber hinaus Arbeitgebern die Möglichkeit, sich vorzustellen und ihre Job-Angebote zu verbreiten. Die Rekrutierung für Fachkräfte setzt Heinzl zufolge jedoch nicht erst nach Studienende an, sondern bereits bei Praktika und Abschlussarbeiten. Er bezeichnete die Arbeit von WISTO als Wechselbeziehung aus Werbung für die Unternehmen und Werbung für die Region. Schwierig sei es, die Alumni auch nach Studienende noch zu erreichen, da Uni-Mailadressen, über die der Erstkontakt häufig zustande käme, in der Regel mit dem Studienende gelöscht würden. Als künftige Herausforderung betrachtet Heinzl daher Partizipatives Place Branding der Unternehmen über die Social Media-Kanäle. WISTO kann hierbei durch die Bereitstellung einer Plattform unterstützen.

Die Teilnahme an Messen wurde im Anschluss rege diskutiert und als wichtiger Faktor für die Rekrutierung von Fachkräften erachtet. Bei internationalen Messen sei es wichtig, Personen aus entsprechenden Branchen anzusprechen, die bestenfalls eine kulturelle Nähe zum neuen Arbeitsort aufweisen. Techniker aus dem Unternehmen könnten zudem bei Messen Interessierten die potenziellen Aufgaben im Unternehmen näher bringen oder Alumni könnten für den Studienort werben. Um ältere Arbeitskräfte, die aufgrund des demografischen Wandels den Arbeitsmarkt verlassen, länger auf dem Arbeitsmarkt zu halten, wurden Maßnahmen wie lebenslanges Lernen und die Übernahme der Lohnnebenkosten durch den Staat angesprochen. Arbeitskräfte aus dem Ausland sollten sich am Arbeitsort heimisch und aufgenommen fühlen können, um dauerhaft zu bleiben. Die Integration ausländischer Arbeitskräfte geht dabei über den Einzelbetrieb hinaus und umfasst unterschiedliche Lebensbereiche.

  1. Perspektiven aus den Hochschulen

Gerd Winandi-Martin, Leiter der Career and Corporate Services der Universität St. Gallen, ist als Karriereberater täglich mit potenziellen Arbeitnehmern in Kontakt und versteht sich als Brückenbauer zwischen Arbeitskräften und Unternehmen. Viele Absolventen seien unsicher, ob der vielen Möglichkeiten, die der Arbeitsmarkt für sie bereithalte, so Winandi. Die Karriereplattform der HSG unterstützt die Absolventen bei der Suche nach einem Arbeitgeber, der ihren Qualifikationen und Präferenzen entgegenkommt. Außerdem werden Anforderungen von Studierenden an die Arbeitsplätze an Unternehmen weitergegeben. Herausfordernd ist es, mit attraktiveren Arbeitsorten wie Zürich und London zu konkurrieren, das geschlossene Branchendenken der Absolventen aufzuweichen und Employer Branding zu betreiben. Die Universität St.Gallen richtet eigene Rekrutierungsveranstaltungen aus, sponsert den Schweizer KMU-Tag und bietet ein eigenes Trainee-Programm an. In Zukunft müssten laut Winandi-Martin die Unternehmen und Career Services besser auf den Wertewandel der jungen Arbeitskräfte reagieren. Millennials hätten einer Befragung an der HSG zufolge eine andere Vorstellung von Karriere als bisher üblich, sie seien gemeinschafts- und weniger eigenorientiert und möchten Veränderungen bewirken. Ein Wandel hin zu einem Arbeitnehmermarkt sei auch absehbar – ab 2024 sei in der Schweiz mit Vollbeschäftigung zu rechnen.

Wie Lebenspartnern von neuen Mitarbeitern an der Universität Konstanz zu einem Job verholfen werden kann, erklärte Kerstin Melzer aus der Dual Career Beratung. Sie wird aktiv, wenn Partnerinnen oder Partner von neu gewonnenen Universitätsmitarbeitern ebenfalls Arbeit in der Bodenseeregion finden möchten. Oftmals befinden sich die Partner laut Melzer auf einem ähnlichen Qualifikationsniveau; sie seien hochqualifiziert und hochspezialisiert. Dies und die fehlende Orientierung Außenstehender auf dem Arbeitsmarkt in der Region gestalte die Jobsuche häufig schwierig. Die Dual Career Beratung hilft, das Selbstmarketing zu optimieren, Interessen rauszufiltern und ergebnisoffen nach geeigneten Arbeitgebern zu suchen. Nach einer erfolgreichen Suche unterstützt sie auch bei Vertragsabschlüssen. Melzer baut dabei auf ein regionales Dual Career-Netzwerk, die Ad-hoc-Gruppe der IBH sowie das Dual Career-Netzwerk Deutschland, für das sie Sprecherin ist. Die Dual Career Policy der Universität gewährleistet eine institutionelle Verankerung des operativen Serviceangebots und bei ihrer Aufgabe kann sie viel von Offenheit und Netzwerkerfahrung profitieren. Allerdings wünscht sie sich mehr, auch internationale, Vernetzung um den Bodensee. Die erfolgreiche Vermittlung von Partnerinnen und Partnern aus dem Ausland sowie die Konkurrenz der attraktiveren Metropolregionen sieht Melzer als künftige Handlungsfelder.

Diskutiert wurden schließlich der Wunsch von Absolventen im Job nicht für Präsenz, sondern für Output beschäftigt zu werden sowie unterschiedliche Jobanforderungen der Studiengänge. Auch im nichtakademischen Bereich fände ein Wertewandel statt, auf den kleine Unternehmen mit flachen Hierarchien schneller reagieren könnten. Ein Integrationsprozess müsste bereits während des Studiums in der Bodenseeregion erfolgen, da die Studienortwahl oft zunächst nur eine kurzfristige Perspektive habe. Die Hochschulen, die zumeist entweder fachlich spezialisert oder wissenschaftlich exzellent sind, hätten dafür die besten Voraussetzungen, wenn auch die Passung von Ausbildungs- und Wirtschaftsprofil der Region eventuell problematisch sein könnte. Der Unterstützung mitziehender Partner habe bislang eine zu niedrige Priorität.

  1. Fazit

Die Beispiele aus Vorarlberg und der VAT zeigten, dass die dort ansässigen Unternehmen primär einen auf technische Qualifikationen spezialisierten Bedarf haben. Allerdings ist es wichtig aufzuzeigen, dass sie auch in anderen Fachbereichen, wie beispielsweise Marketing und Kommunikation, Arbeitsplätze anbieten. Aus Sicht der Teilnehmenden ist es wichtig, dass für künftige Fachkräfte ein Gesamtpaket geschnürt werden müsse, das viele Bleibeanreize umfasst, die über ein attraktives Jobangebot hinausgehen und auch Arbeitsmöglichkeiten für Partnerinnen und Partner sowie Freizeitangebote bis hin zu Wohn- und Kinderbetreuungsmöglichkeiten beinhalten. Grenzüberschreitende Kooperationen könnten hierbei etwaige Beschränkungen der Handlungsräume überwinden. Denkbar wären beispielsweise ein großräumigeres Regional Employer Branding als Vierländerregion, eine Karrieremesse für die Bodenseeregion oder eine App, die Angebote aus den verschiedenen Ländern auf einen Blick präsentiert. Aus wissenschaftlicher Sicht könnte eine Befragung externer Studierender zu deren Arbeitsmarktpräferenzen die regionalen Sichtweisen erweitern. Auch eine Absolventenbefragung bei Hochschulen in der Bodenseeregion kann Aufschluss über deren Anforderungen an Arbeits- und Lebensbedingungen geben. Wichtig ist es, mit den Millenials, den Studierenden und Absolventen in Kontakt zu kommen, deren Werte und Bedürfnisse zu kennen, um entsprechende Angebote gestalten zu können.